Aus dem Sprechzimmer …
Viele Patienten, die mit Schmerzen in den Gelenken zu uns kommen, können wir beruhigen. Ihr Problem ist durch ein konsequentes Aufbautraining der Muskulatur in den Griff zu bekommen. Und, das ist die zweite gute Nachricht, das schafft jeder, egal welchen Alters. Man braucht nur etwas Geduld und muss dafür einige Zeit investieren.
Aber damit entsteht häufig bei unseren Patienten ein neues Problem: Woher die Zeit nehmen, wenn (eigentlich) keine mehr übrig ist?
Aus diesem Grund wollen wir uns in diesem Blogbeitrag einmal dem Thema Zeit widmen.
Die Tücken der Zeit
Das moderne Leben ist verdichtet und eng gepackt. Daraus ergibt sich bei vielen Menschen regelrechte Zeitnot. Ihre Zeit ist knapp, ihre Tage mit Terminen bis oben hin vollgepackt.
Der „Pace of Life” ¹), also die Lebensgeschwindigkeit, nimmt von Jahr zu Jahr zu. Überall wird gehetzt, ist man gestresst, bemüht man sich um mehr Effizienz, steht man unter einem enormen, z. T. selbst gemachten, Druck. Für unseren Körper fühlt es sich so an, als wären wir in einem dauerhaften Alarmzustand.
Ein chronisch hohes Lebenstempo gefährdet, und das wundert wahrscheinlich niemanden, die Gesundheit.
Auch unser Gehirn ist bei permanentem Zeitdruck nicht mehr in der Lage, die volle Energie auf die Aufgabe zu verwenden, die es gerade zu lösen gilt. Ein Teil der Energie muss stattdessen für die Stressregulation aufgewendet werden. ²)
Also gilt es, Fahrt raus zu nehmen und sich auf das Wesentliche zu besinnen.
Aber wie soll das gehen?
Leichter gesagt als, bei vielen, getan, denn irgendwie ist nie Zeit übrig.
Selbst „eingesparte Zeit”, beispielsweise durch mehr Effizienz und Temposteigerung, nutzen wir nicht, um zur Ruhe zu kommen oder mal langsamer zu werden, sondern wir verwenden diese sofort wieder für neue Aufgaben und Aktivitäten. Auf diese Weise herrscht in unserem Alltag ständig Zeitmangel, Tendenz steigend.
Ein Teufelskreis entsteht. Der „Pace of Life” steigt und steigt.
Man hat nie wirklich Zeit
Bei genauerem Hinsehen wird deutlich: Für unsere gefühlte Zeitnot sind wir zum (Groß-) Teil mit verantwortlich. Denn objektiver Zeitmangel besteht häufig gar nicht, zumal die meisten im Schnitt über 6 Stunden Freizeit pro Tag verfügen. Dennoch sind viele unzufrieden, weil sie gefühlt, nicht zu den Dingen kommen, die sie gern tun würden!
Wir haben nicht zu wenig Zeit, sondern zu viel zu tun! Oder tun wir vielleicht häufig das Falsche?
Die Vielzahl an Aufgaben, Verpflichtungen, Terminen aber auch an Angeboten, Optionen und einer Fülle an Möglichkeiten, die wir auch noch nutzen wollen, lassen Zeitdruck und Ungeduld wachsen.
Und wer hat heute eigentlich noch Geduld? Wo schließlich keiner mehr Zeit hat!
Fastfood, Powernapping, Speeddating…, alles Ausdruck für Ungeduld. Schnell, schnell, es muss permanent weitergehen.
Doch was ist dann das richtige Gegenmittel bei ständiger Hektik? Vielleicht Verlangsamung? Wohl kaum, denn dadurch werden am Ende des Tages die Aufgaben weiterhin vor Ihnen liegen, nur stapeln sie sich dort und werden nicht weniger.
Auch die in großen Mengen angebotenen Zeitmanagementratgeber sorgen wahrscheinlich mehr dafür, in kürzerer Zeit noch effizienter zu werden, als wirklich Zeit zu gewinnen, sich zu entspannen und glücklicher zu werden.
Stattdessen ist Verzicht das Mittel für mehr Zeit.
Die Zeiträuber
Die Wurzel des Problems ist bei vielen Menschen die Gewichtung. Ihnen gelingt es nicht, zu priorisieren, was essentiell wichtig ist und worauf verzichtet werden kann.
Zeitfresser Nummer 1, wer hätte das gedacht, ist das Internet. Damit verbringen die Menschen in Deutschland im Schnitt 71 Stunden pro Woche. Das sind, machen Sie sich das einmal klar…, 3 volle Tage pro Woche. Die Hälfte davon entfällt auf privates Surfen.
Kann man da noch sagen, man hätte keine Zeit? Ist diese Zeit wirklich gut investiert?
Was wir also lernen müssen ist, zu erkennen, was wirklich wichtig ist und was wir konsequent weglassen können.
Was ist notwendig, was ist sinnvoll und was raubt uns nur Zeit?
Das Gegenmittel zur unendlichen Liste
Bei den allermeisten führt der Gedanke des Verzichts zunächst zu Abwehrreflexen, denn niemand gesteht sich gern ein, dass er eigentlich auf das eine oder andere verzichten könnte.
Doch wenn wir ehrlich sind, finden sich bei jedem von uns überflüssige Zeiträuber.
Um diese zu identifizieren, empfiehlt es sich, eine 3-geteilte Liste für alle Bereiche des Lebens anzulegen.
Darin stehen in der ersten Spalte die wirklichen, unverzichtbaren Kernaufgaben, in der zweiten Spalte die Herzensangelegenheiten und in der dritten alle anderen Beschäftigungen.
In dieser letzten Spalte fängt man dann als erstes an, auszumisten. Schritt für Schritt wird dieser Bereich verkleinert bis hin zu abgeschafft.
Wer nie innehält und sich fragt, ob eine Sache es auch wert ist, dafür Zeit zu opfern, dessen Tage werden sich automatisch nicht nur mit mehr, sondern auch mit trivialeren oder langweiligeren Dingen füllen, weil diese nie die Hürde nehmen mussten, als vorrangig eingestuft zu werden. Häufig handelt es sich dabei sogar um Dinge, die andere Menschen von einem erwarten und gegen die man sich nicht zu wehren versucht hat. Je effizienter man wird, desto mehr wird man zu einem grenzenlosen Reservoir für die Erwartungen anderer. ³)
Priorisierung regelmäßig aktualisieren
Die Priorisierung muss regelmäßig überprüft und korrigiert werden. Denn schnell schleichen sich wieder alte Gewohnheiten ein. Dazu gehört es auch, zukünftig alte Dinge wegzulassen, wenn neue hinzukommen.
Kommt etwas Neues, geht etwas Altes. Daran muss man sich vielleicht erst einmal gewöhnen, aber es ist unumgänglich, weil sonst irgendwann nichts mehr geht. Nur so wird der Pace of Life nicht weiter angefacht.
Es mag sich anfangs unbequem und schmerzlich anfühlen, aber eine sorgfältige Auswahl, eine Entscheidung für das eine und gegen das andere, ist unverzichtbar für einen selbstbestimmten Umgang mit der eigenen Zeit.
Zurück zum Sprechzimmer
Sollten Sie also gerade vor der Frage stehen, wie Sie ein bis zwei Stunden Trainingszeit pro Woche in Ihren Terminkalender einbauen können, dann überlegen Sie in Ruhe, was in Ihrem Alltag notwendig und was Ihnen wirklich wichtig ist. Ziel ist es nicht, die Trainingszeit noch zusätzlich zu allem anderen zu integrieren, sondern sich von Beschäftigungen zu befreien, die möglicherweise in erster Linie nur den Tag füllen. Ein Teil dieser Zeit können Sie dann für ein effektives Training nutzen.
Dieses „Opfer” sollte Ihnen Ihre Gesundheit mehr als wert sein.
Fazit
Auch wenn mit dem teilweisen Verzicht ein Gefühl des Verlustes einhergeht, macht die Tatsache, dass Zeit begrenzt ist, Entscheidungen unerlässlich. Nur so gelangen Sie wieder zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung.
Und unterliegen Sie nicht länger der Illusion, eines Tages Zeit für alles zu haben oder alles, was die Welt zu bieten hat, auszuschöpfen. Es wird nicht klappen bzw. Sie werden ständig den Eindruck haben, etwas zu verpassen.
Der Versuch, im Eiltempo möglichst viel zu konsumieren, weil man damit meint, wirklich gelebt zu haben, verstärkt am Ende nur das Gefühl der existentiellen Überforderung. Konzentrieren Sie sich stattdessen auf die wirklich wichtigen und schönen Dinge in Ihrem Leben und genießen Sie diese in vollen Zügen.
¹) Pace of Life, Robert Levine: The Pace of Life in 31 Countries
²) Aus dem Podcast: Gehirn gehört – Prof. Dr. Volker Busch, Ausgabe 46:
Nicht die Zeit rennt, sondern wir – Was unser Leben schneller und dichter macht.
³) Aus dem New York Times Besteller: Oliver Burkeman, 4000 Wochen.