Ob vor oder nach der Sporteinheit, Dehnen ist mittlerweile fester Bestandteil in den allermeisten Sportprogrammen geworden. Daher wird dem „Themengebiet Dehnen” auch seit Jahren viel Aufmerksamkeit geschenkt und die entsprechende Literatur ist umfangreich.
Doch eindeutige Beweise, wonach das Dehnen tatsächlich den gewünschten positiven Effekt auf die Sehnen und Muskeln hat, kann die Wissenschaft nicht liefern. Denn die meisten Studien, bei denen die unmittelbare Reaktion der Muskulatur nach einer Dehnungssitzung bewertet wurde, konnten nur kleine bis mäßige messbare Veränderungen aufzeigen. ¹’²)
Doch sollten wir deshalb nun nicht mehr dehnen? Ganz und gar nicht, so die Fachleute, die die Einbeziehung von Dehnungen in eine Aufwärmsitzung und am Ende einer Trainingseinheit sehr empfehlen.
Und wer darüber hinaus auf sein Körpergefühl hört, weiß längst, dass sich während der Dehnung eines Muskels die Flexibilität und Bewegungsfreiheit spürbar verbessert.
Recken – Strecken – Dehnen
Allgemein gilt, dass jede Form von Strecken, Dehnen und Recken gut für unsere Gelenke, Sehnen und Bänder ist.
Die Natur macht’s vor
Nach dem Schlafen oder Ausruhen trägt das Recken und Strecken dazu bei, die Durchblutung zu verbessern und die Muskeln zu aktivieren, was zu einer größeren Beweglichkeit und Leistungsfähigkeit führen kann. Auch ist dies die Vorbereitung auf körperliche Aktivitäten. Dehnen und Bewegen bewirkt, dass die Gelenke geschmiert werden, sich die Muskeltemperatur erhöht und die Koordination verbessert.
Dehnübungen sind quasi die sportliche Variante des Reckens und Streckens bezogen auf einzelne Muskelgruppen. Dem Dehnen wird vor allem eine gesteigerte Beweglichkeit, das Vorbereiten auf physische Belastungen, Leistungssteigerung, Vergrößerung des Bewegungsradius von Gelenken, Verletzungs- und Muskelkaterprophylaxe (konnte nicht nachgewiesen werden s.o.), verbesserter Stoffwechsel in den Geweben sowie eine Entspannung und Lockerung der Muskulatur bzw. dadurch eine schnellere Regeneration und Wohlbefinden nachgesagt.
Was passiert im Muskel beim Dehnen?
Kurzes und dynamisches Dehnen bis 15 Sekunden, mit kontrollierten Bewegungen, die durch den gesamten Bewegungsbereich führen, aktiviert die Muskulatur und verbessert die Viskoelastizität (Beziehung von Spannung und Dehnung in geschwindigkeitsabhängiger Form). Dies geschieht durch wiederholte, rhythmische Bewegungen bzw. wippendes (nicht ruckartiges) Nachfedern am Ende der Bewegung.
Das Gegenteil ist längeres statisches Dehnen ab ca. 20 Sekunden (häufig auch als Stretching bezeichnet). Dabei hält man eine bestimmte Position für einen längeren Zeitraum, um langfristig die Flexibilität und Beweglichkeit zu verbessern. Vorübergehend kann dies zu einer Verringerung des Blutflusses in den gedehnten Bereichen führen, da die dortigen Blutgefäße komprimiert werden. Und auch der Muskeltonus wird vorübergehend erhöht, ein Schutzmechanismus des Körpers, um Verletzungen zu verhindern.
Klingt erst einmal nicht gut, doch unmittelbar nach dem Dehnen beginnen sich die Muskeln zu entspannen und es setzt eine reaktive Mehrdurchblutung ein. Das bedeutet, dass sich der Blutfluss in die gedehnten Muskeln erhöht, um sie mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen. Das führt zu einer Reduzierung von Muskelverspannungen und zur Verbesserung der Regeneration.
Umso länger gedehnt wird, desto größer ist die Abnahme der Muskelsteifigkeit. Und umgekehrt: Umso länger gedehnt wurde, desto länger dauert die Rückkehr der Muskelsteifigkeit auf ihr Ausgangsniveau.
Vor dem Sport
Sportwissenschaftler empfehlen, das dynamische Dehnen mit ins Aufwärmprogramm zu integrieren. Der Grund liegt auf der Hand: Eine auf die Belastungen, die beim Sport auftreten können, vorbereitete Muskulatur, ist weniger anfällig für Verletzungen. Wichtig ist dabei, die Muskeln nur im aufgewärmten Zustand zu dehnen, die richtige Technik anzuwenden und die individuellen Fähigkeiten und Einschränkungen des eigenen Körpers zu berücksichtigen.
Lassen Sie sich beim Dehnen daher etwas Zeit. Dehnen Sie langsam und allmählich und übertreiben Sie nicht, d.h. gehen Sie nicht über Ihre Schmerzgrenze.
Nach dem Sport
Die Mehrheit der bisherigen Forschung zeigt, dass statisches Dehnen (Halten einer Dehnung in einer Position ohne Bewegung) am besten für das Ende eines Trainings geeignet ist, da es sicherer und effektiver ist, richtig aufgewärmte Muskeln zu dehnen.
Statisches Dehnen nach dem Sport kann daher eine wirksame Methode zur Verbesserung der Erholung und zur Linderung von Muskelsteifheit und -schmerzen sein.
Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass die Kraftfähigkeiten und damit auch die Leistung (Sprung- und Muskelkraft) durch statisches Dehnen vermindert werden, beziehen sich auf die Zeit vor dem Training. Sie legen darüber hinaus eine Dehndauer zugrunde (> 60 sek.), die jene der allgemeinen Sportpraxis deutlich überschreitet. Diese Studien können im Freizeitsportbereich aus unserer Sicht unberücksichtigt bleiben.
Kurz- oder langfristige Effekte
Dehnprogramme können übrigens auch hinsichtlich ihrer Dauer unterschiedliche Auswirkungen haben. Denn während ein einmaliges kurzzeitiges Dehnen von mehreren Minuten unmittelbare Reaktionen des Organismus auslöst (kurzfristige Effekte), welche Minuten bis mehrere Stunden anhalten, wird bei einem Dehnprogramm über mehrere Wochen oder Monate eine längerfristige und größere Beweglichkeit angestrebt (langfristige Effekte).
Stressminderung und antientzündliche Effekte
Es gibt eine Reihe von Studien, die darauf hindeuten, dass körperliche Aktivität und insbesondere Dehnungen dazu beitragen können, das Stressempfinden herabzusetzen und die Stimmung zu verbessern. ³) Chronischer Stress kann bekanntermaßen eine Reihe von unerwünschten Reaktionen im Körper hervorrufen. Dazu gehören vermehrte Angstgefühle, Müdigkeit und Anspannung. Regelmäßiges Dehnen kann in Verbindung mit achtsamen Atemtechniken dazu beitragen, selbst mentale Spannungen abzubauen.
Da Stress darüber hinaus auch eine mögliche Ursache für chronische Entzündungen ist, kann Stressabbau somit im Umkehrschluss mit dafür sorgen, entzündliche Reaktionen zu reduzieren.
Um die genauen Mechanismen zu verstehen und um zu untersuchen, welche Formen des Trainings am effektivsten sind, sind weitere Forschungen erforderlich.
Fazit:
Der aktuelle Blick in die Literatur bringt leider wenig Beweise für das, was wir uns vom Dehnen versprechen. Die Forschung weist hier offensichtlich eine Lücke auf. Nichtsdestotrotz ist für viele Patienten und Sportler der positive Nutzen des Dehnens in seinen unterschiedlichen Formen fester Bestandteil ihrer persönlichen Überzeugung.
Aus unserer Sicht ist regelmäßiges Dehnen durchaus eine wichtige Ergänzung im Rahmen einer gesunden Lebensweise und Fitnessroutine. Eine Kombination aus einem regelmäßigen Ausdauer-, Kraft- und individuellen Dehntraining (am Beginn und am Ende) ist eine effektive Methode, die körperliche Fitness und Beweglichkeit zu verbessern.
Nehmen Sie sich daher auch vor und nach jeder Milon-Trainingseinheit etwas Zeit für einige Dehnübungen. Denn von dieser Form der aktiven Entspannung profitiert nicht nur Ihre Muskulatur, sie entspannt zusammen mit einer ruhigen und tiefen Atmung auch Ihren Geist.
Literatur:
¹) Acute effects of muscle stretching on physical performance, range of motion, and injury incidence in healthy active individuals: a systematic review https://doi.org/10.1139/apnm-2015-0235
²) Chaabene, Helmi, et al. „Acute Effects of Static Stretching on Muscle Strength and Power: An Attempt to Clarify Previous Caveats.“ https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fphys.2019.01468/full
²) De Weijer, VolkertC., Gerard C. Gorniak, and Eric Shamus. „The effect of static stretch and warm-up exercise on hamstring length over the course of 24 hours.“Journal of Orthopaedic& Sports Physical Therapy33.12 (2003): 727-733. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/14743986/
³) Yoga and Cognition: A Meta-Analysis of Chronic and Acute Effects