Wenn der Schmerz chronisch wird….

von Michael Richter

Offizielle Definitionen bezeichnen einen Schmerz als chronisch, wenn dieser mehr als 12 Wochen andauert. Der chronische Schmerz ist somit ein Schmerz der erhalten bleibt, obwohl große Teile der Heilung abgeschlossen sind und die normale Belastbarkeit des Gewebes wieder gegeben ist. Entgegen der häufig allgemeinen Annahme ist der chronische Schmerz nicht nur ein Schmerzgedächtnis oder ein isoliert psychisches Problem! Zumindest werden diese Vereinfachungen nicht den tatsächlichen Geschehnissen gerecht.
Gleichzeitig ist die Schmerzursache im chronischen Stadium nicht alleinig auf eine Strukturschädigung zurückzuführen bzw. kann nicht mit dieser erklärt werden.

Wie viele andere Erfahrungen die wir im Leben machen, ist Schmerz ebenso ein Lernprozess.

Um die Komplexität von Schmerzerfahrung nachvollziehen zu können, bietet sich folgendes eindrückliches Beispiel an:


Jeder Mensch wird ein Lieblingsgericht haben. Dieses Gericht ist in ein vielseitiges Netzwerk eingepflegt, welches in unserem Gehirn (Zentralnervensystem: ZNS) gespeichert ist. Wir können uns an Abende erinnern, an denen wir das Gericht gegessen haben; wir wissen wie es schmeckt und lieben den Geruch. Wenn wir es häufig, auch z.B. für unsere Freunde, gekocht haben, kennen wir das Rezept auswendig und haben dieses schon oft „abgerufen“.
Sollten Sie nun ein konkretes Beispiel vor Augen haben, ist evtl. Ihr Appetit angeregt und Sie entwickeln vermehrt Speichel. Sie sind gedanklich darauf vorbereitet, dieses Gericht gleich zu sich zu nehmen. Bemerkenswert ist, dass dieser vermehrte Speichelfluss eine autonome Reaktion auf Ihre Gedanken ist, d.h. wir haben körperliche Symptome, die direkt im Zusammenhang mit unseren Vorerfahrungen und Gedanken stehen. Wie gesagt, es ist ein eindrückliches Beispiel.

Zurück zum Schmerz.

Während die Assoziationen mit dem Lieblingsgericht positiv sind, so sind die Erfahrungen, die wir mit Schmerz haben, negativ assoziiert.

  • Der Schmerz soll weg gehen und am besten sofort!
  • Warum hört es nicht auf weh zu tun?
  • Könnte das etwas Böses sein?
  • Wenn es weiter weh tut, ist bestimmt noch etwas kaputt!
  • Darf ich mich trotz der Schmerzen normal belasten?

Es gibt unzählige Beispiele von Gedanken, Gefühlen, Überzeugungen und Umgangsformen mit chronischen Schmerzen und alle haben einen Einfluss auf unser Schmerzerleben. So sind z.B. Niedergeschlagenheit und Frustration Gefühle, die regelmäßig bei chronischen Schmerzen vorkommen.
Alle Faktoren haben gemeinsam, dass wir heute mit wissenschaftlich fundierter Sicherheit sagen können, dass sie dazu beitragen, den Schmerz zu erhalten. Dies ist möglich, weil das menschliche ZNS eine anpassungs- und lernfähige Struktur ist und sich bei einer intensiven Schmerzerfahrung sensibilisieren kann. Diese Sensibilisierung findet sowohl im ZNS als auch in der Peripherie statt d.h. zum Beispiel an Nervenendigungen in der Muskulatur.

Die Schmerzerfahrung ist eine komplexe im ZNS gespeicherte Lernerfahrung. Die Wissenschaft nennt dies eine Schmerzsignatur oder Schmerzmatrix. Die Aktivierung der Schmerzmatrix ist durch alle an die Schmerzerfahrung gekoppelten Faktoren möglich. So sorgt bei einem chronischen Schmerz nicht alleinig die Struktur (Bandscheiben, Muskeln, Sehnen etc.) für den Erhalt des Schmerzes, sondern auch die in der Schmerzmatrix gespeicherten Assoziationen mit dem Schmerz.

Zur Erinnerung: Schmerz ist ein zielführendes und sinnvolles Gefühlserlebnis, dass unseren Körper beschützt.
Diese Alarmfunktion ist bei chronischen Schmerzzuständen allerdings übermäßig empfindlich, so dass es zu einer dauerhaften schützenden Stressreaktion kommt, die nicht mehr sinnvoll ist.

Schematisch lässt sich die Komplexität der Schmerzerfahrung so darstellen:

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Bild: Eigene Darstellung

Selbstverständlich hat der dargestellte „Teufelskreislauf“ individuelle Ausprägungen und ist nicht auf jeden Patienten mit Schmerzen gleich übertragbar. Es werden allerdings die vielschichtigen Faktoren, die im Rahmen einer langanhaltenden Schmerzerfahrung eine Rolle spielen, klar.

Zusammenfassend können wir feststellen:

  • Schmerz ist niemals alleinig von der organischen Schädigung / Struktur abhängig
  • Psychische Faktoren beeinflussen die Schmerzerfahrung
  • Schmerzerleben ist abhängig von den aktuellen Lebensumständen und der sozialen Situation
  • Je länger Schmerzen andauern, umso größer ist der Einfluss der genannten Faktoren
    (Modifiziert aus: GRIP: DAS MANUAL, 2003)

Was können Sie tun?

Als betroffene Person ist es von besonderer Wichtigkeit, dass Sie Ihre medizinischen Versorger mit folgenden Fragen konfrontieren:

  • Was ist mit meinem Körper nicht in Ordnung?
  • Wie lange wird das dauern?
  • Was kann ich für mich tun?
  • Was können Sie für mich tun?

Eine medizinische Behandlung kann nur langfristig funktionieren, wenn Sie als betroffene Person die Verantwortung übernehmen. Vertrauen Sie auf die Kompetenz Ihres behandelnden Arztes oder Therapeuten, bleiben Sie aber auch stets kritisch. Eine Behandlung sollte Ihnen Linderung bringen! So muss z.B. eine physiotherapeutische Behandlung nicht über Jahre laufen und auch eine dauerhafte Suche nach dem ultimativen Therapeuten, Arzt, Heiler o.ä. muss irgendwann ein Ende haben, denn viele gescheiterte Therapieversuche werden Ihre Prognose nicht verbessern.

Fordern Sie eine Versorgung für Ihre chronischen Beschwerden, die dem aktuellen Forschungsstand gerecht wird und Ihr Problem auf „allen Ebenen“ wahrnimmt. Hier sind die multidisziplinären Einrichtungen zielführender als Heilungsversprechen einzelner Behandler. Dies ist wissenschaftlich bestätigt.
Eine interessante Ressource z.B. zum Thema chronische Kreuzschmerzen finden Sie unter folgendem Link:
http://www.patienten-information.de/kurzinformationen/ruecken

Chronische Schmerzen sind ein ganzheitliches Geschehen und für die Betroffenen eine enorme körperliche und seelische Belastung. Sollten Sie an chronischen Schmerzen leiden, wünsche ich Ihnen Stärke, Geduld und die Begleitung durch reflektierte Behandler, die um die zahlreichen zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten wissen.

Mein Tipp:

Ab Oktober (1. Termin: 12.10.2016) finden immer am zweiten Mittwoch eines Monats im Rückenzentrum Am Michel von 17:30 bis 18:30 Uhr kostenlose Informationsveranstaltungen zum Thema Schmerz statt, zu denen wir Sie sehr herzlich einladen!
Weitere Informationen finden Sie zeitnah unter folgendem Link:
https://ruecken-zentrum.de/forschung-lehre/fortbildungsveranstaltungen/

Autor: Dr. rer. medic. Michael Richter

Seit 2007 im Rückenzentrum Am Michel und bis 2021 fachlicher Leiter der Physiotherapie sowie Verwaltungsprofessor für Therapiewissenschaften an der HAWK am Gesundheitscampus Göttingen.

4 Gedanken zu „Wenn der Schmerz chronisch wird….“

    1. Vielen Dank für das Lob. Auf diesem Blog werden wir uns noch häufig mit dem Thema Schmerz auseinandersetzen. Daher lohnt es sich, immer mal wieder vorbeizuschauen.

  1. Ein sehr interessanter und umfangreicher Beitrag. Ich bin selbst Schmerzpatientin und weiß wie schwierig der Umgang damit und die Suche nach Hilfe ist. Ich habe mir unlängst mit einer Maßnahme selbst geholfen. Mein Lebensfreudeblog 🙂 lg Melanie

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